Sachverständigenrat für Umweltfragen

Keine Entwarnung für Nord- und Ostsee

Grundlegende Korrekturen in der Fischerei-, Agrar- und Chemikalienpolitik erforderlich
Umweltrat legt Sondergutachten „Meeresumweltschutz für Nord- und Ostsee“ vor

Datum 10.02.2004

Trotz der teilweise beachtlichen Umweltschutzanstrengungen zurückliegender Jahre kann für die Meeresumwelt von Nord und Ostsee keine Entwarnung gegeben werden. Überfischung, Schadstoffeinträge, Eutrophierung und die intensive Nutzung der Meere durch Schifffahrt, Rohstoffabbau und Tourismus setzen die Meeresumwelt von Nord und Ostsee nach wie vor massiv unter Druck. Die Natur unserer Hausmeere befindet sich weiterhin auf dem Rückzug. Ein wirksamer Meeresumweltschutz erfordert daher einschneidende politische Initiativen und grundlegende Korrekturen insbesondere in der Fischereipolitik, der Agrarpolitik und bei der Chemikalienregulierung. So lautet die Bilanz des „Sondergutachtens zum Meeresumweltschutz“, das der Umweltrat heute an Umweltminister Trittin übergibt.

  • Die massive Überfischung der kommerziellen Zielfische hat viele Fischbestände dramatisch dezimiert. So befinden sich die Kabeljaubestände in der Nordsee bereits seit mehreren Jahren weit unterhalb der sicheren biologischen Erhaltungsgrenze. Einige Arten, wie der Europäische Aal, drohen bereits auszusterben.
  • Trotz erheblicher Rückgänge der Schadstoffeinträge liegen die Konzentrationen zahlreicher Schadstoffe im Meerwasser und in den Sedimenten heute noch deutlich über den meeresökologischen und ökotoxikologischen Unbedenklichkeitsschwellen. Viele Stoffe, die vom Menschen eingetragen werden, sind hinsichtlich ihrer Wirkungen und Risiken noch kaum erforscht.
  • Anhaltend hohe Phosphat und Stickstoffeinträge insbesondere aus der landwirtschaftlichen Düngung sind Ursache der Eutrophierung. Als Folge des Nährstoffüberangebots bedrohen übermäßiges Algenwachstum, Sauerstoffmangel, hohe Schwefelwasserstoffkonzentrationen und großflächiges Absterben bodennaher Organismen die ökologische Vielfalt der Meeresumwelt.
  • Die intensive Nutzung der Meere insbesondere durch die Schifffahrt, zur Rohstoffgewinnung, durch Pipeline und Leitungsbau sowie für den Tourismus addieren sich inzwischen vielerorts zu massiven Eingriffen in die marinen Lebensräume. Der geplante Aufbau großräumiger Offshore Windekraftanlagenparks wird den Nutzungsdruck noch deutlich erhöhen.

In Anbetracht dieser Belastungslage sieht der Umweltrat dringenden Handlungsbedarf:

Der Europäischen Gemeinschaft muss es endlich gelingen, die hohen Überkapazitäten der nationalen Fischereiflotten abzubauen und die Fangtätigkeit mit den natürlichen Belastungsgrenzen der Bestände und der befischten Lebensräume in Einklang zu bringen. Diese unabdingbare Voraussetzung einer nachhaltigen Fischereiwirtschaft hat die Gemeinschaft zwar längst zur Maxime ihrer Gemeinsamen Fischereipolitik erklärt. Dennoch hat sie Jahr für Jahr Fangquoten weit oberhalb der wissenschaftlich empfohlenen Mengenbeschränkungen festgelegt. Der Umweltrat bestärkt daher die Bundesregierung in ihrem Engagement, die Fangmengen zukünftig strikt an den Belastungsgrenzen der Fischbestände auszurichten.

Um die Belastung der Meeresnatur durch die Nährstoffeinträge auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, muss dringend ein Weg aus der intensiven landwirtschaftlichen Düngung gefunden werden. Dies kann nur gelingen, wenn die Ansätze zur Ökologisierung der europäischen Agrarpolitik mit Nachdruck weiter verfolgt werden. Nicht nur aus dem Blickwinkel des Meeresumweltschutzes sieht der Umweltrat in den bisherigen Reformansätzen nur allererste Schritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Agrarpolitik.

Um die Schadstoffbelastung auf ein akzeptables Maß zu reduzieren, haben sich die verantwortlichen Staaten im Rahmen des so genannten Generationenziels dazu verpflichtet, zum Jahre 2020 den Eintrag aller als persistent, bioakkumulierend und toxisch erkannten Stoffe zu beenden. Diese Zielsetzung muss vor allem auch durch das europäische Chemikalienrecht konsequent umgesetzt werden. Dazu muss im Rahmen der anstehenden Reform der Chemikalienpolitik das Zulassungsverfahren für besonders gefährliche Stoffe strenger als von der Europäischen Kommission vorgeschlagen, ausgestaltet werden.

Um gravierenden Umweltschäden durch Schiffsunfälle wie dem der „Prestige“ wirksam vorzubeugen, müssen die Sicherheitsinitiativen der Europäischen Union, insbesondere das phasin-gout von Ein-Hüllen-Tankschiffen, zügiger und konsequenter umgesetzt werden. Die Europäische Union sollte dabei in der sehr zögerlichen Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) eine Vorreiterrolle einnehmen.

Zum Schutz der örtlichen Habitate sollten die planungsrechtlichen Voraussetzungen und die genehmigungsrechtlichen Anforderungen an punktuelle Eingriffe so fortentwickelt werden, dass gravierende Eingriffe in die Meeresumwelt nach Möglichkeit vermieden werden. Wesentliche Bedeutung kommt dabei der Freihaltung schutzwürdiger Gebiete zu. Die Bundesregierung sollte deshalb nicht länger zögern, ausreichend dimensionierte Schutzgebiete gemäß der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie auch für die Meeresflächen der so genannten ausschließlichen Wirtschaftszone an die Europäische Kommission zu melden, und sich dabei eng an den Fachvorschlägen des Bundesamtes für Naturschutz zu orientieren. Zu einem kohärenten Schutzgebietsnetz muss nach Überzeugung des Umweltrates unbedingt eine marine Raumplanung hinzutreten, die die vielfältigen Nutzungsansprüche in Abwägung mit den Erfordernissen des Meeresumweltschutzes bündelt und koordiniert.

Ein gravierendes Defizit der Meeresumweltpolitik sieht der Umweltrat auch darin, dass bisher keine übergreifenden Schutz, Bewirtschaftungs und Handlungsprogramme existieren. Wie für das Festland gilt auch für die intensiv genutzten Gebiete von Nordsee und Ostsee, dass es ohne übergreifende, überprüfbare Vorsorgeziele und ohne eine integrierte, in sich abgestimmte Maßnahmeplanung nicht gelingen wird, die vielen Nutzungsansprüche und Belastungsfaktoren wirksam und effizient den Erfordernissen des Meeresumweltschutzes anzupassen. Nur durch transparente Maßnahmenprogramme wird auch überprüfbar, ob und wie die EG und die Einzelstaaten ihre internationalen und gemeinschaftsrechtlichen Pflichten für den Meeresumweltschutz tatsächlich erfüllen können. Der Umweltrat empfiehlt daher der EG, der Bundesregierung und den KüstenBundesländern, möglichst rasch integrierte Meeresschutzprogramme zu erarbeiten und unter regelmäßiger Öffentlichkeitsbeteiligung fortzuschreiben.

Das vollständige Gutachten ist im Internet unter http://www.umweltrat.de abrufbar

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